
In der 2. Kalenderwoche des Jahres 2014 wurde damit begonnen, die erste Betriebsstätte der Sauerländischen Stuhlfabrik, ansässig an der Dinscheder Straße oberhalb der Straße Oesterfeldweg, ab zu reißen.
Der am 10. September 1877 geborene Oeventroper Georg Gierse erlernte zunächst in Werl das Handwerk des Orgelbauers und Tischlers.
Zunächst machte sich Georg Gierse mit Aufträgen und Arbeiten im Rahmen einer bescheidenen Schreinerei in Dinschede selbständig. Die Zeichen der beginnenden Industrialisierung entsprechend richtig erkennend, stellte er bereits früh mit der Gründung der Sauerländischen Stuhlfabrik um das Jahr 1910 am gleichen Platze die Weichen für die weitere Entwicklung: es war der Beginn eines großartigen wirtschaftlichen Aufstiegs der Gemeinde Oeventrop mit einer stark prosperierenden Möbelindustrie. Später trat sein Vetter, der Kaufmann Josef Wrede, als Partner in die Firma ein. Zuvor kamen und gingen verschiedene Geschäftspartner, so auch in den Anfangszeiten u.a. die Herren Stöss und Penselin als vorübergehende beteiligte Partner.
Das Fabrikgebäude an der Dinscheder Straße wurde im Jahre 1913 aus Ziegelsteinen erbaut, die von Wanderarbeitern aus dem Osten an Ort und Stelle gebrannt wurden. Der Lehm stammte aus dem Gebiet des heutigen „Elsterwinkel“, welches direkt neben an auf eigenem Grund lag.

Der große wirtschaftliche Erfolg machte es notwendig, die Fabrikation ca.1920 an die damals neu erbaute Bahnlinie (dem heutigen Widaymarkt) zu verlegen. Die neuen Fabrikanlagen wurden durch die Firma Bauunternehmen August(?) Kessler erstellt.
In dieser Zeit verfügte das Unternehmen über mehrere eigene Pferdegespanne, mit denen das benötigte Holz aus den umliegenden Wäldern abgefahren wurde; auf der Koppel standen mitunter bis zu 10 „Ackergäule“.
Ferdinand Hilmerich von der Oberglösinger Straße, besaß einen eigenen Stuhlwagen, der von einem Pferd gezogen, die gefertigten Stühle von Dinschede und später vom Widayweg zum Bahnhof zur Güterabfertigung transportierte, nach dem 2. Weltkrieg tat er dies, einschließlich auf- und abladen, mit einem Arm, da er den anderen im Krieg verloren hatte.
In der Spitze beschäftigte die „Sauerländische Stuhlfabrik Gierse und Wrede“ bis zu 150 Mitarbeiter. Dank großer fachlicher Leistungen und einer christlich-sozialen Einstellung stieg das Unternehmen zum führendsten Unternehmen am Platze auf. Mit Recht bezeichnete sich das Unternehmen über 50 Jahre lang als Erste und Größte Stuhlfabrik Westdeutschlands. Spezialitäten der Firma waren Stuhl- und Tischfabrikationen in jeder Holz- und Stilart, insbesondere in Eichenholz, Stühle mit Lederbezügen oder in Korbgeflechtverarbeitung.
Ebenso wurden Sonderanfertigungen oder besondere Kundenwünsche wie etwa Konferenztische nach Maß entsprechend ausgeführt. Daneben besaß die Firma verschiedenste Patente wie z. B. auf besondere Klappmechanismen bei Ausziehtischen. Auf den entsprechenden Möbelmessen war sie über Jahrzehnte vertreten.
Es ist das unbestreitbare Verdienst des Georg Gierse, die wirtschaftliche Entwicklung des Dorfes Oeventrop maßgeblich beeinflusst und den Qualitätsruf der Oeventroper Tische und Stühle weit in die Lande getragen zu haben. In Würdigung dieser Tatsache wurde Georg Gierse als „Vater“ der heimischen Stuhlindustrie 1957 als erster und einziger der Gemeinde zum Ehrenbürger ernannt!

Aus dem damaligen Unternehmen gingen zwei weitere große Stuhlfabriken in Oeventrop hervor: Die „Oeventroper Stuhlfabrik“ (später Weberstühle) am Bahnhof (heute LIDL) und die „GERMANIA“ Sitzmöbelfabrik (heute großes Dienstleistungszentrum neben dem Widaymarkt). Die Gründer waren die ehemaligen Mitarbeiter Franz Weber (erste Produktionsstätte an der Glösinger Straße hinter dem Hause Koßmann (der auch Mitbegründer war) und Johannes Kraas („Grello“, großer Förderer des TuS Oeventrop).
Ein weiterer Mitarbeiter Kusch machte sich später in Hallenberg selbständig (die Firma hat heute über 1000 Beschäftigte). (siehe http://de.kusch.com/).
Zwei weitere Familienmitglieder, Ludwig und Engelhard Gierse machten sich 1937 in Ellrich/Harz mit einer Stuhl- und Tischfabrik selbständig, die im Trubel der Nachkriegswirren aufgrund der Grenzziehung zwischen Ost- und Westdeutschland aufgegeben werden musste.
Georg Gierse trug also zu Recht das Prädikat „Vater“ der heimischen Stuhlindustrie.
Darüber hinaus nahm er rege am öffentlichen Leben teil: 3 Jahrzehnte gehörte er zum Kirchenvorstand und lange Zeit als Mitglied bzw. stellvertretender Vorsitzender zum Aufsichtsrat der Spadaka. Er war im Gemeinderat, Schützenkönig und mehrere Jahre auch Schützenhauptmann. Wohl alle damaligen Oeventroper Ortsvereine zählten ihn ein halbes Jahrhundert zu seinem Mitglied oder Ehrenmitglied.
Zu seinen Hobbies gehörte u.a. das Jagen. So hatte er von 1920-1945 eine Jagd in Obersalwey (Homert) und von 1945-1962 in Freienohl gepachtet.
Seine christlich-soziale Ader erkennt man an vielen Beispielen: So verschickte er z.B. schon in den 30-er Jahren, in einer Zeit als der NS-Staat bereits Jagd auf die Juden machte, LANZ-Bulldog-Teile in Kisten verpackt nach Juden in Übersee! Auf das Vorkaufsrecht des damaligen Judenhauses, später Kolpinghaus, hat er aus Pietätsgründen verzichtet! Für die kath. Pfarrkirche hatte er die Beichtstühle gespendet und als 1946 wieder Glocken in den Kirchturm gehängt werden sollten, stiftet er die erforderlichen dicken Stütz-Eichenbalken für diesen Glockenturm.
Dass in der 1982 herausgegeben Chronik „Die Ruhrdörfer“ die „Sauerländische Stuhlfabik“ als Vorläufer und Gründer völlig unerwähnt geblieben ist, gehört zu den ganz großen Schwächen dieser ansonsten außergewöhnlich guten Chronik.
Georg Gierse war mit manchen menschlichen Tugenden und Vorzügen ausgestattet, was ihn jedoch nicht davor schützen konnte, den Niedergang seines Unternehmens Anfang der 60-er Jahre noch im hohen Alter mit erleben zu müssen, als seine Familie aus finanziellen Gründen aus dem Unternehmen gedrängt wurde!
Die Firma wurde dann noch kurze Zeit vom Schwiegersohn des verstorbenen Geschäftspartners Josef Wrede, Ferdinand Stemann fortgeführt, ging aber schon nach kurzer Zeit in Konkurs.
Danach ruhte der Betrieb auf dem Gelände für längere Zeit und wurde nach und nach vom neuen Besitzer Stemann aufgeräumt und umgebaut bis zum Jahre 1967, da eröffnete ein Möbelhaus mit dem Namen MMZ aus Gütersloh seine Pforten in der ehemaligen Stuhlfabrik – gleichzeitig gründeten die Herren Karl-Vinzenz Eikel + Hans-Hermann Spindeldreher ihre Firma E+S, (Kunststoffbeschichtung von Spanplatten), die 26 Jahre dort beheimatet war, ehe sie nach Wildshausen in das ehemalige Werksgelände der Firma Steinau nach dessen Kauf übersiedelte.
Heute ist das Einkaufszentrum „Widaymarkt“ eines der größten in der ganzen Umgebung mit einem Einzugsbereich, der weit über die Grenzen Oeventrops hinaus geht!
Doch zurück zum Gebäude an der Dinscheder Straße. Erbaut wurde es im Jahre 1913 mit einem etwa 30 Meter hohen Schornstein südöstlich der Fabrik, der im 2. Weltkrieg aus Übungszwecken gesprengt wurde. Die damalige Fabrik hatte auch ein kleines Wasserkraftwerk, das von einem Bach, der unter dem Hause Bette verlief, durch 100-er Rohre gespeist wurde. Oberhalb des Hauses Bette war bis in die 60er Jahre noch ein Teich, ebenso ein weiterer unterhalb an der Dinscheder Straße; insgesamt war aber die Wasserkraft nicht völlig ausreichend, um die vielen Maschinen mit Strom zu versorgen. Es gab damals auch eine kleine Gebetsglocke am Fabrikgebäude die wahrscheinlich in der Nazi-Zeit entfernt werden musste (was vermutet, aber nicht belegt ist).
Diente die Dinscheder Fabrik vor dem 2. Weltkrieg noch als Holzlager für die bereits 1920 am Widayweg erstellte Fabrik, so wurde sie im Kriege zur „Schule“ für verwundete Soldaten eingerichtet, die im Elisbabethheim und im Kloster auf der Egge („Mottenburg“) gesund gepflegt wurden und sich hier schulisch, sogar bis zum Abitur weiter bilden konnten. Darüber hinaus war dort technisches Material wie Motorräder, Fahrzeugteile zur Schulung der „Motor HJ“ – „Hitlerjugend“ gelagert, welches kurz nach Kriegsende in einer Nacht gestohlen wurde.
Den Bombenangriff am 9. Februar 1945, bei dem 19 Oeventroper in unmittelbarer Umgebung der Fabrik den Tod fanden, hat die alte Fabrik damals weitgehendst unversehrt überstanden.
Später diente die Fabrik mehreren Familien als Wohnhaus für Vertriebene aus den Ostgebieten oder Ausgebombten aus dem Ruhrgebiet. (Anton Gluns , Wilhelm Schiwek, Richard Schneider, Ernst Wagner und August Werner). Mehrere Firmen hatten in der alten Fabrik später ihre Lager- bzw- Produktionsräume: Getränke Ferdinand Bräu, Kartonagen Heinze (später Freienohl), Willi Grünfeld (Möbel) sowie Waldemar Visser (Dachdecker) und Eisenwaren Beste aus Arnsberg.
Der Fotograf Schick (Wohnung im Hause Hesse an der Dinscheder Straße) hatte einige Zeit sein Atelier im Untergeschoss der ehemaligen Fabrik eingerichtet.
Im Keller war in den 60er Jahren ein großes Kühlhaus eingerichtet worden, in dem die heimischen Bauern Kühlfächer für die Einlagerung des Fleisches ihrer geschlachteten Tiere anmieten konnten.
Mit dem Abriss der alten Sauerländischen Stuhlfabrik an der Dinscheder Straße endet ein weiteres trauriges Kapitel Oeventroper Industriegeschichte!
Quellen: Westfalenpost, Ulrich Kümmeke und Hans-Georg Gierse (beide Enkel des Firmengründers).
Bilder: Archiv + Franz-Josef Molitor und Franz Rüther
Text: Franz-Josef Molitor

